Anna von Kleve: die einzige Frau Heinrichs, die er vor der Eheschließung nicht persönlich kennenlernte – und sie sollte es bereuen.
Schatten einer Toten
Nach dem Tod seiner dritten Frau, Jane Seymour, verfiel Heinrich in eine Depression. Er nahm stark an Gewicht zu. Ein Geschwür an seinem Bein, das ihn an den meisten Aktivitäten hinderte, verschlimmerte dies. Eine neue Ehe war sicher nicht an der Spitze seiner Wunschliste. Aber er war nach wie vor im akzeptablen Alter für einen Ehemann. Und schließlich konnte seinem einzigen Sohn in einer Zeit mit derart hoher Kindersterblichkeit allzu schnell ein frühes Ende beschert sein. Ziemlich bald nach Jane Seymours Tod hörte Heinrich engster Ratgeber Thomas Cromwell sich nach einer neuen potentiellen Braut um.
Hierbei war zum einen das politische Gleichgewicht zwischen England, Spanien und Frankreich zu beachten, aber auch Heinrichs Vergangenheit hatte ihre Spuren hinterlassen: Anne Boleyns Schicksal sorgte nicht unbedingt dafür, dass junge Edeldamen Schlange standen, um Heinrichs neue Königin zu werden. Christina von Dänemark wurde sogar die Aussage in den Mund gelegt, dass, hätte sie zwei Köpfe, einer davon Heinrich zur Verfügung stehen könnte.
Um ein Gegengewicht zu den sich annähernden Mächten Spanien und Frankreich zu bilden, suchte Cromwell die Nähe zu den protestantischen Herrschern der deutschen Lande. So fand er heraus, dass der Herzog Wilhelm von Kleve zwei junge, unverheiratete Schwestern hatte. Hofmaler Hans Holbein fertigte ein Portrait der älteren Schwester, Anna, an. Zusammen mit Comwells Lobpreisungen der deutschen Edeldame bewegte das Bild Heinrich dazu, begeistert der Ehe mit Anna zuzustimmen. Doch wer war Anna von Kleve?
Anna von Kleve, die unbekannte Deutsche
Nicht viel ist bekannt aus Annas früherem Leben. Geboren 1515 in der Nähe von Düsseldorf, erhielt Anna, wie auch ihre beiden Schwestern, von ihrer konservativen Mutter eine sehr altmodische Erziehung, bei der auf Handarbeit mehr Wert gelegt wurde als auch Fremdsprachen oder Musik.
Als die Eheverhandlungen dann schließlich abgeschlossen waren und Anna von Kleve 1539 ihr Elternhaus für immer verließ, um nach England zu reisen, war sie in keinster Weise auf die Rolle vorbereitet, die sie zukünftig spielen sollte. Weder war sie geschult in höfischer Unterhaltung noch sprach sie ausreichend Englisch. Nach ihrer Ankunft in England nahmen sich daher der Herzog von Suffolk und seine Frau Annas an und brachten ihr die grundlegenden, englischen Gepflogenheiten bei. Doch nach wie vor wirkte Anna mit ihrem Benehmen und ihrer Kleidung sehr ungewöhnlich.
Anna von Kleve kam schließlich im Schloss des Bischofs von Rochester unter, und Heinrichs Geduld war am Ende. So lange wartete er darauf, seine neue Braut in Augenschein zu nehmen, dass er Annas offizielle Ankunft in London nicht mehr abwarten wollte. Er ritt nach Rochester und überreichte Anna in Verkleidung ein Geschenk des Königs. Anna erkannte ihn nicht und zeigte sich sehr schüchtern. Heinrich war sowohl von ihrer Reaktion als auch von Anna selbst enttäuscht. Gleich nach dem Kennenlernen soll er gesagt haben, sie gefalle ihm nicht. Auf Heinrichs Drängen hin wurden Wege gesucht, die Eheschließung noch zu verhindern, doch es konnten keine gefunden werden. Anna von Kleve und Heinrich heirateten am 06. Januar 1540 in Greenwich.
Die ungeliebte Königin
Die Hochzeitsnacht schien Heinrichs Abneigung gegen Anna noch zu verstärken. Er habe ihren Körper so abstoßend gefunden, dass er die Ehe mit ihr nicht vollziehen konnte. Hintergedanke hierbei war sicher auch, dass eine nicht vollzogene Ehe immer noch annuliert werden konnte. Anna hingegen zeigte sich vollkommen ahnungslos. Zu Ihren Hofdamen soll sie gesagt haben, der König küsse sie jeden Abend und wünsche ihr eine gute Nacht. Und er küsse sie jeden Morgen und verabschiede sich von ihr – ob das nicht reichen würde?
Heinrich arbeitete also auf die Auflösung seiner Ehe hin, und sein Minister Thomas Cromwell, der die Ehe in die Wege geleitet hatte und dem Heinrich nun die Schuld an der ganzen Misere gab, versuchte verzweifelt, Heinrichs Zorn auf sich zu mindern. Anna von Kleve wurde währenddessen zwar zuvorkommend behandelt, nahm jedoch am ganzen Geschehen kaum teil, denn noch immer war ihr Englisch nicht gut. Heinrich hatte zudem bereits erneut eine Hofdame im Auge: Die blutjunge Katherine Howard.
Anna kannte zudem natürlich die Vorgeschichte sowohl von Anne Boleyn als auch von Katharina von Aragon. Über kurz oder lang muss sie gemerkt haben, dass der König mit ihr unzufrieden war, und sie muss sich Sorgen um ihre Zukunft gemacht haben. Der König hatte bereits zwei unliebsame Frauen beseitigt – was würde ihr widerfahren? Zudem muss es sie gekränkt haben, dass soviel Kritik an ihrem Aussehen über kurz oder lang durchsickerte. Wie attraktiv die 25-jährige Anna den 24 Jahre älteren, übergewichtigen und an eiternden Geschwüren leidenden Heinrich fand, fragte zumindest niemand.
Des Königs Schwester
Aller Kränkung zum Trotz: als ihr schließlich mitgeteilt wurde, der König plane, ihre Ehe annulieren zu lassen, zeigte sie sich kooperativ und erfüllte alle an sie gestellten Forderungen. Sie bestätigte, dass ihre Ehe nie vollzogen worden war und schrieb einen Brief an ihren Bruder, indem sie ihre Zustimmung zu ihrer Trennung erklärte, um den Herzog nicht zu verärgern.Ihre Ehe hatte nur sechs Monate gedauert.
Heinrich war sehr angetan von ihrem Verhalten, und sie wurde nicht nur mit Landsitzen und Einkommen belohnt, sondern wurde auch zu seiner “guten Schwester” erklärt. Sie hatte somit Vorrang vor jeder englischen Dame außer der Frau und den Töchtern des Königs. Anna durfte jedoch nicht nach Kleve zurückkehrten und wünschte dies angeblich auch selbst nicht. Sie lebte fortan auf Hever Castle das Leben einer wohlhabenden Witwe und besuchte den Hof regelmäßig. Zu Heinrichs neuer Königin Katherine Howard baute Anna eine freundschaftliche Beziehung auf, und das erste gemeinsame Neujahrfest verbrachten die beiden Frauen beim fröhlichen Tanz, während der König zu Bett gehen und sein krankes Bein pflegen musste.
Als Heinrich Katherine Howard schließlich ebenfalls hinrichten ließ, machte Anna sich Hoffnungen, der König wurde zu ihr zurückkommen. Zu ihrer Enttäuschung heiratete Heinrich jedoch Catherine Parr, obwohl diese laut Annas eigener Einschätzung längst nicht so hübsch wie sie selbst sei.
Überhaupt schien die Geschichte ungerecht zu Anna und ihrem Aussehen gewesen zu sein. Der Heinrich zugesprochene Ausspruch, sie sei eine “flandrische Mähre”, wurde vermutlich erst 150 Jahre später erdacht. Alles in allem soll Anna zwar keine besondere Schönheit, aber nicht häßlich gewesen sein. Doch ihre fremdländische und wenig vorteilhafte Kleidung sowie ihre schüchterne, unerfahrene Art reichten aus, um Heinrich abzustoßen. In späteren Jahren, als sich sowohl ihr Englisch als auch ihr Selbstbewusstsein verbesserten, verbesserte sich auch das Verhältnis zu Heinrich. Stellenweise wurde ihnen sogar eine Affäre nachgesagt.
Beim Volk war Anna ebenfalls bald sehr beliebt, da sie sehr großzügig mit ihrem Geld umging und auch an die Armen dachte. Nach Heinrichs Tod kürzte dessen Sohn Edward VI. jedoch ihre Bezüge, doch Mary I. kümmerte sich während ihrer Regentschaft wieder besser um ihre ehemalige Stiefmutter – die ein Jahr älter als sie selbst war.
Im Jahr 1557 erkrankte Anna 42-jährig an Krebs und verstarb am 16. Juli 1557. Sie wurde mit allen Ehren in der Westminster Abbey beigesetzt. Sie hatte sowohl Heinrich als auch alle seine Frauen überlebt. Das Portrait, das Hans Holbein von ihr gemalt und in das sich Heinrich verliebt hatte, ist heute im Pariser Louvre zu bewundern.
Die sechs Frauen Heinrichs VIII.: